Rezension „Alodia, du bist jetzt Alice“ von Reiner Engelmann – cbt Verlag

  • Taschenbuch: 240 Seiten
  • Verlag: cbt; Auflage: Originalausgabe (9. September 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3570312682
  • ISBN-13: 978-3570312681
  • Vom Hersteller empfohlenes Alter: Ab 14 Jahren
  • D: 9,00 Euro

Inhalt:

Vergessene Opfer: Geraubte Kinder im Nationalsozialismus

Alodia Witaszek ist fünf Jahre alt, als ihr Vater von Nationalsozialisten hingerichtet wird. Ihre Mutter wird nach Auschwitz deportiert. Die blonde und blauäugige Alodia gilt als »rassenützlich«. Sie kommt in ein »Lebensborn«-Heim und wird als »Geschenk des Führers« einer deutschen Familie zur Adoption übergeben. Nach Kriegsende sucht Alodias leibliche Mutter zwei Jahre lang nach ihrem verschleppten Kind. Kurz vor Weihnachten 1947 hat sie Erfolg: Alodia kehrt in ihre fast vergessene Familie zurück und muss ihre Muttersprache neu lernen. Reiner Engelmann hat die Zeitzeugin getroffen und ihr Leben aufgeschrieben. Mit Originaldokumenten und Fotos.

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Der Autor:

Reiner Engelmann wurde 1952 in Völkenroth geboren. Nach dem Studium der Sozialpädagogik war er im Schuldienst tätig, wo er sich besonders in den Bereichen der Leseförderung, der Gewaltprävention und der Kinder- und Menschenrechtsbildung starkmachte. Für Schulklassen und Erwachsene organisiert Reiner Engelmann regelmäßig Studienfahrten nach Auschwitz. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Anthologien und Bücher zu gesellschaftlichen Brennpunktthemen.

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Rezension:

Reiner Engelmann leistet mit seinen Werken einen wichtigen Beitrag, damit wir die Ereignisse der Geschichte nicht vergessen, daraus lernen und einen besseren Weg für unsere Zukunft finden können. Er hält das Andenken an all die Menschen, die während der Nazidiktatur unermessliches Leid erfahren mussten oder ihr Leben verloren haben aufrecht.

Der Autor hat in seinem aktuellen Buch ein Thema angeschnitten, über das recht wenig geschrieben wurde – Zwangsadoptionen während des Zweiten Weltkrieges.

Alodias Geschichte basiert auf wahren Tatsachen. Ihr Schicksal und das ihrer Familie stehen stellvertretend für alle Familien, die durch den Naziterror auseinander gerissen wurden. In vielen Fällen gelang es nach Kriegsende nicht, die Spuren der geraubten Kinder zu verfolgen. Viele Eltern sahen ihre Kinder nie wieder und blieben über deren Schicksal im Ungewissen.

Die Nazis beließen es nicht dabei, die Kinder aus ihrem familiären Umfeld herauszureißen. Ihnen die Identität zu nehmen. Bevor die Kinder an neue Familien weitergereicht wurden, durchliefen sie viele Stationen des Leides und nur wenige kamen in einer Familie zur Ruhe.

Alodias Leidensweg beginnt im Kinderbereich eines Konzentrationslagers. Um dieses und die nachfolgenden „Heime“ zu überleben, bedurfte es einer Vielzahl an glücklichen Fügungen und Zufällen. Viele Kinder starben bereits in den Lagern oder Heimen. Die Zustände dort lassen sich kaum erfassen. Auf das Alter oder die Bedürfnisse der Kinder wurde keine Rücksicht genommen und Erwachsene genossen ihre Macht über diese hilflosen Wesen.

Kinder verdrängen und vergessen sehr schnell, was sie in den ersten sechs Lebensjahren erleben. So auch Alodia und ihre Schwester. Neben den Erinnerungen an ihre eigentliche Familie und ihre Muttersprache, verdrängten sie auch die traumatischen Ereignisse. Sie wurden von ihren neuen Eltern geliebt und umsorgt, erlebten dadurch einige unbeschwerte Jahre.

Durch die Zwangsadoptionen waren aber nicht nur die Kinder und deren Eltern betroffen. Auch den neuen Familien, denen die Umstände unter denen die Kinder zu ihnen fanden, nicht bekannt waren, erfuhren viel Leid und am Ende große Verluste. Es handelte sich hier vorwiegend um Paare, die sich nichts sehnlicher wünschten, als ein Kind großziehen zu dürfen. Nachdem sich dieser Wunsch erfüllt und sie das Kind in ihr Herz geschlossen hatten, wurde es ihnen wieder entrissen.

Jedes Elternteil möchte seine Kinder wieder in die Arme nehmen dürfen. Aldoias Mutter konnte die Härte und Strapazen der Konzentrationslager nur überleben, weil die Gedanken an ihre Kinder ihr Kraft gaben. Als die Kinder zu ihr zurückkehrten, war sie für die Mädchen allerdings zu einer fremden Frau geworden.

Alodia und Daria mussten ihr Leben noch einmal neu beginnen, Vertrauen und auch ihre Muttersprache neu erlernen. Die Anfeindungen gegen die Kinder waren in Polen damals groß. Diese vor allem psychische Belastung können wir gar nicht wirklich greifen. Die beiden Mädchen haben es geschafft, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
Alodia hatte sogar das Glück, den Kontakt zu ihrer Adoptivmutter aufrechterhalten zu können. Beide Mütter verband zum Schluss eine echte Freundschaft und das Mädchen durfte mit der Liebe zweier Mütter aufwachsen. Vor diesen beiden starken und klugen Frauen muss man Hochachtung haben. Ich mag gar nicht daran denken, wie viele Kinderseelen damals zerbrachen.

Das Daria den Kontakt zu ihren Adoptiveltern nicht wieder aufnehmen konnte, mag vielleicht auch daran liegen, dass für diese der Verlust des Mädchens zu schmerzhaft gewesen ist. Hierüber kann man nur Vermutungen anstellen, dennoch hat es Daria über einen langen Zeitraum hinweg belastet.

Reiner Engelmann beleuchtet alle Seiten, die der Kinderraub während der NS-Zeit mit sich brachte. Er zeigt die Schicksale polnischer Familien auf. Besonders der Familien, die sich der NS-Diktatur in den Weg stellten. Repressalien hatten nicht nur die Widerstandskämpfer, sondern auch ihre Familien zu befürchten. Alodias Familie ist nur ein Beispiel für die damalige Brutalität und Skrupellosigkeit der Nazis.

Bei „Alodia, du bist jetzt Alice“ handelt es sich um ein sehr empathisch geschriebenes Jugendbuch. Die sprachliche Gestaltung ist dem Alter der Zielgruppe angepasst. Dennoch beschönigt Reiner Engelmann die Ereignisse nicht und spricht die Grausamkeiten in einer sehr deutlichen und doch kindgerechten Art an. Die eingefügten Familienfotos bringen den Lesern diese Geschichte sehr nahe. Es handelt sich nicht um unbekannte Personen, die Ereignisse gewinnen an Realität. Man hat ihre Gesichter beim Lesen direkt vor Augen und nimmt Anteil an dem Schicksal jedes Einzelnen.

Es ist ein wichtiges Buch, mit dem man Kinder aber nicht allein lassen sollte. Wichtig ist, über das Gelesene miteinander zu sprechen, um all die Informationen verarbeiten zu können.

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