Rezension “Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm” von Günther Schwarberg – Steidl Verlag

Gebunden: 224 Seiten
Steidl-Verlag
Deutsch

ISBN 978-3-86930-837-1
1. Auflage 05/2016
D: 18,00 Euro


Inhalt:

»Ich war und bin so erschüttert und fassungslos, kann gar nicht meine Gefühle beschreiben. […] Mein Vater, meine Mutter, Walter und ich wurden im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert. Die Männer und Kinder wurden von uns getrennt. Walter hat seine Kappe vergessen und ist zurückgekommen um sie zu holen, danach war er der letzte in der Reihe, hat sich umgedreht, gewinkt und gelächelt und das war das letzte Mal, dass meine Mutter und ich Walter gesehen haben.« – Siebzig Jahre lang glaubte die Shoa-Überlebende Grete Hamburg, ihr Bruder Walter Jungleib sei auf einem der Todesmärsche von Auschwitz umgekommen. Erst im Jahr 2015 konnte sie herausfinden, dass sich Walter unter den zwanzig Kindern befand, die am 20. April 1945 mit 18 anderen jüdischen Jungen und Mädchen im Keller einer Hamburger Schule auf barbarische Weise ermordet worden waren. An diesen Kindern – die jüngsten fünf, die ältesten zwölf Jahre alt – hatte der KZ-Arzt Kurt Heißmeyer monatelang pseudowissenschaftliche Experimente durchgeführt, sie mit Tuberkulose infiziert, ihnen die Lymphdrüsen herausoperiert. Kurz vor Kriegsende erhielt SS-Obersturmbannführer Arnold Strippel per Fernschreiben den Befehl, »die Abteilung Heißmeyer aufzulösen«, was nicht weniger hieß, als den Kindsmord einzuleiten und alle Beweise zu vernichten.

In jahrelanger Arbeit ist der Journalist Günther Schwarberg den Spuren der Kinder vom Bullenhuser Damm nachgegangen, hat Eltern und Geschwister ausfindig gemacht, die Tat und ihre Hintergründe bis ins Detail rekonstruiert. Zu seiner Recherche gehören auch die juristischen Nachspiele in der jungen BRD, die bis heute Fragen aufwerfen.

Quelle: Steidl Verlag

Der Autor:

Günther Schwarberg, geboren 1926 in Vegesack, war ein deutscher Journalist und Autor. Er arbeitete mehr als 20 Jahre für den stern. Die Recherche und Aufarbeitung des Kindermords am Bullenhuser Damm wurde zu Schwarbergs Lebensaufgabe. Dafür erhielt er, zusammen mit der Rechtsanwältin Barbara Hüsing, 1988 den Anne-Frank-Preis. Günther Schwarberg starb 2008 in Hamburg.

Quelle: Steidl Verlag 
Rezension:
© Wikipedia –
Schule Bullenhuser Damm in Rothenburgsort

Dies ist ein Buch, das traurig und vor allem wütend macht. Wütend auf Menschen, deren Gewalt sich gegen hilflose Kinder richtete, gegen deren menschenverachtenden Praktiken, ihr Denken und Handeln, aber auch gegen diejenigen, die ihre Augen vor den unbeschreiblichen Tatsachen verschlossen haben. Es geht hier nicht nur um die Täter an sich, sondern die Justiz und all die Menschen, die die Täter bis zuletzt schützten.

Noch immer kann ich nicht nachvollziehen, wie ein zu Hause liebevoller fürsorglicher Vater an anderer Stelle diese Verbrechen an unschuldigen Kindern vornehmen konnte.

Auf den ersten Blick sind es „nur“ zwanzig Namen auf weißem Papier, dann kommen die Jahreszahlen – Geburts- und Todesdatum hinzu. Wem hierbei keine Gänsehaut über den Rücken läuft, ich weiß nicht. Das jüngste der Kinder war gerade einmal fünf Jahre alt. Man mag sich die Torturen, denen sie in ihren letzten Lebensmonaten ausgeliefert waren, nicht vorstellen. Günther Schwarberg gibt diesen Kindern und auch den Menschen, die bis zum Schluss an ihrer Seite waren und ihnen mit geringen Mitteln versuchten, ein wenig der Geborgenheit und Liebe zu vermitteln, die so sehr fehlte, wieder ein Gesicht.

Dabei bleiben von einigen nur die Namen zurück. Fotografien sind nicht von allen Kindern und weiteren Opfern vorhanden. Ganze Familien wurden ausgelöscht, ihr Leben schlichtweg ausradiert. Unkorrektheiten in der Schreibweise der Namen führten dazu, dass sich die Suche nach evtl. überlebenden Verwandten schwierig gestaltete. Noch immer verbleibt das Schicksal vieler im Unklaren. 
Das Buch hat aber auch auf diesem Wege einiges bewirken und Schicksalsfäden zusammenführen können. 

*1938 in Radom, Polen
*1933 in Polen

*1933/1936 in Eindhoven, Niederlande
*1934/35 in Polen
*1938 in Zduńska Wola, Polen
*1937 in Neapel, Italien
*1939 in Polen
*1934 in Sandomierz, Polen
*1932 in Paris, Frankreich
*1937 in Polen
*1932 in Paris, Frankreich
*1934 in Kattowitz, Polen
*1937 in Radom, Polen
*1938/1939 in Radom, Polen
*1937 in Ostrowiec, Polen
*1933 in Polen
*1936 in Zawichost, Polen
*1933 in der Slowakei

Die Betreuer der Kinder, die in dieser schweren Zeit immer bei ihnen waren und mit ihnen gemeinsam in den Tod gingen.

*1886 im Elsass, Frankreich
*1884 in Sarlat-la-Caneda, Frankreich

Dirk Deutekom
*1885 in Amsterdam, Niederlande
*1909 in Deventer, Niederlande
Das Schicksal dieser zwanzig Kinder steht symbolisch für das von vielen Tausenden. Wir dürfen nicht vergessen, damit genau das nie wieder geschieht. 

All diese Kinder starben nur wenige Tage vor Kriegsende und traurig ist, es gab mehr als eine Gelegenheit, ihr Leben zu retten. Es hätte nur ein wenig Menschlichkeit und Courage ausgereicht.

Doch was erwartet man, wenn Ärzte experimentelle Versuche an Kindern vornehmen, deren Leben sie auf eine Stufe mit dem eines Meerschweinchens setzen. 

“Für mich gab es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Menschen und Versuchstieren.”

Experimente, deren wissenschaftliche Bedeutung bereits null und nichtig war. Das Ergebnis von Dr. Kurt Heißmeyers makaberen Studie stand bereits fest – negativ – doch die Versuchsreihe musste von ihm vervollständigt und abgeschlossen werden. 

Wie krank muss man als Mensch sein? Wie kann ein Arzt dieses Handeln mit seinem einmal geleisteten hippokratischen Eid vereinbaren? Die Beteiligten empfanden auch Jahre später weder Schuld noch Reue. Dr. Alfred Trzebinski versteckte sich sogar hinter dem Mantel der Humanität, da er die Kinder vor deren Tötung mit Morphium betäubt und so ihr Leiden verringert hätte. 

“Ich kann mir keinen Vorwurf machen, dass ich den Kindern vor ihrer Hinrichtung eine barherzige Morphiumspritze gemacht habe. Dies war im Gegenteil eine humane Tat, der ich mich nicht zu schämen brauche”

Eine Aussage, bei der man in Unglauben und Unverständnis den Kopf schüttelt und die Gänsehaut verursacht. Wie krank doch die Gedankengänge dieses Mannes waren und es gab so viele Gleichgesinnte…

Aber auch viele Jahre später erfuhren die Opfer keine wirkliche Gerechtigkeit. Einer der Täter rutschte immer wieder durch die Maschen des Gesetzes. SS-Obersturmführer Arnold Strippel musste seine Taten nie büßen. 
Er ist kein Ausnahmefall, doch hier wurde umfassend recherchiert sowie Faktenwissen gesammelt, die Hintergründe aufgedeckt – und genau diese Tatsachen machen wütend.

Ich habe bereits viele Bücher über den Holocaust und Vernichtungslager gelesen. Einzelschicksale von Überlebenden, Zeitzeugenberichte oder Lebensgeschichten derer, die nicht so viel Glück hatten und in Konzentrationslagern für immer verschwanden. Doch so hilflos und wütend habe ich mich beim Lesen noch nie gefühlt. Um meine Gefühle nicht mit in den Alltag zu übernehmen, musste ich im Anschluss immer wieder zu einer leichteren Lektüre umschwenken. Etwas, das mir in dieser Intensität noch nicht passiert ist. 


“Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm” ist kein einfaches Buch und verlangt seinen Lesern sehr viel ab. Doch es ist wichtig, damit wir niemals Vergessen und eine Wiederholung dessen nie erfolgen wird.

Ja, es geht um Kinder, auch sehr kleine Kinder und als Mutter reagiert man besonders emotional. Doch das allein war es nicht einmal. Emotional aufgewühlt hat mich das Prozedere nach Kriegsende bis in die heutige Zeit. Die Manipulation von Beweisen, der Umgang mit Zeitzeugen in den wiederkehrenden Prozessen und die immer währende Straffreiheit für einen Haupttäter. Als normal denkender und empfindender Mensch kann man dessen Kälte, Selbstherrlichkeit und Ignoranz nicht nachvollziehen. Und in seinen Augen, war er immer im Recht und hat dies auch von den Behörden durch die abgebrochenen Prozesse und aufgehobenen Urteile immer wieder bestätigt bekommen. 
Eine Realität, die mich noch lange nach Beendigung des Buches arg beschäftigen wird.

In der Hamburger Schule am Bullenhuser Damm entstand nach vielen Widerständen eine Gedenkstätte, in der man dem Andenken an die getöteten Kinder und deren Betreuer gerecht wird. Ein wichtiger Beitrag “Gegen das Vergessen”. Die Zeit und unsere Gesellschaft werden immer schnelllebiger, historisch unangenehme Tatsachen geraten ins Abseits und drohen zu verblassen. Dabei scheint es heute wichtiger denn je, sich die damaligen Ereignisse vor Augen zu führen und seine Lehren daraus zu ziehen.

Die im Artikel verwendeten Fotos stammen von der Website der Gedenkstätte Bullenhuser Damm und ich bedanke mich für die freundliche Erlaubnis, diese hier nutzen zu dürfen. 

Foto des Ausstellungsraums mit den Biografien der Kinder in der Gedenkstätte Bullenhuser Damm. Foto: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 2012.

Ausstellungsraum mit den Biografien der Kinder in der Gedenkstätte Bullenhuser Damm. Foto: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 2012. (ANg 2014-471)

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