Interview mit Reiner Engelmann zur Leipziger Buchmesse 2016

Am Buchmessefreitag, 18.03.2016 wurde an Herrn Reiner Engelmann der FDA Literaturpreis für Toleranz, Respekt und Humanität 2016 verliehen. Im Vorfeld dieser Ehrung durfte ich mit ihm ein interessantes Interview führen.
Nehmt euch ein wenig Zeit, denn ich konnte einen sehr sympathischen, bescheidenen und beeindruckenden Menschen erleben, der sein Herzblut in seine Arbeit Gegen das Vergessen steckt.

Da ich Reiner Engelmann gern den Schlusssatz in diesem Interview überlassen möchte, bedanke ich mich an dieser Stelle bereits bei Herrn Engelmann und seiner Lebensgefährtin für das wundervolle Gespräch und die Zeit, die sie sich während und auch noch nach dem Interview genommen haben.

Interview


Was mich immer beschäftigt, wenn ich ihre Bücher zur Hand nehme ist: 
Wie muss man sich die Kontaktaufnahme zu Überlebenden des Holocaust vorstellen? Oder kommen auch Zeitzeugen direkt auf sie zu?

Also nachdem feststand, dass ich dieses zweite Buch „Wir haben das KZ überlebt“ schreiben würde, bin ich auf die Zeitzeugen zugegangen. Es ist nicht ganz einfach, diese Menschen zu finden und davon zu überzeugen, darüber zu reden. Es gibt viele, die können nicht darüber reden. Ich habe viele kennengelernt, die sagen: „Dieses Thema ist für mich tabu.“ Andere können es und so habe ich angefangen über das Internet zu recherchieren, wer lebt noch, wer erzählt seine Geschichten. Wenn jemand seine Geschichten erzählt, findet man das dadurch, dass man über sie Zeitungsartikel findet, sie an Schulen gehen, an Volkshochschulen oder Hochschulen. Und so bin ich an diese Menschen heran gekommen, habe ganz schlicht und einfach angerufen und mich vorgestellt und gesagt: „Dieses Projekt würde ich gerne machen. Hätten sie Lust, das Interesse daran mitzuarbeiten, zur Verfügung zu stehen, um ihre Geschichte zu erzählen.“. Und die waren von Anfang an mit dabei, ich habe keine Absage bekommen, von Niemandem. Nach den ersten Vorgesprächen, haben wir später Termine vereinbart und dann haben wir die so nach und nach aufgesucht.

Alle Gespräche mit den Zeitzeugen haben wir, wie das heutige Interview, aufgenommen und das war die Grundlage für das, was ich hier geschrieben habe.

Wichtig war mir, dass muss ich auch noch sagen, dass ich keinen vorbereiteten Fragekatalog hatte, den ich abarbeiten wollte. Ich wusste, die haben unsägliches erlebt. Und wenn sie bereit sind zu reden, dann reden sie über das, worüber sie reden können und nicht über das, wo ich vielleicht noch das ein oder andere herauskitzeln würde. Einer hat davon erzählt, dass da ein Journalist bei ihm war, der so nachgebohrt hat, dass er nachher nicht mehr konnte und nur noch geheult hat. Das wollte ich vermeiden.

Sie sollten freiwillig erzählen, dass was sie erzählen konnten. Viele haben mehr erzählt, als sie sonst erzählen. So kamen die Kontakte und Begegnungen zustande.

Diese Gesprächstermine gehen mit sehr vielen Gefühlen einher. Sie gehen nach Hause und haben eine Fülle an Eindrücken und Informationen zu verarbeiten. Da kehrt man nicht einfach so in den Alltag zurück. Ich stelle es mir sehr schwierig vor.
Als Leser kann man das Buch zuklappen, man kann sich eine Auszeit gönnen und dann, wenn man wieder in der Gefühlslage ist, das Buch erneut zur Hand nehmen. Sie schreiben nicht nur fünf Minuten an diesem Thema, sondern über einen längeren Zeitraum. Man kann das Gehörte zu Hause nicht wie einen Ballast beiseitelegen, wie wir Leser ein Buch.
Wie gehen sie mit diesen Gefühlen um?

Es ist äußerst schwierig, das wirklich so über einen längeren Zeitraum auszuhalten.
Als ich das Buch geschrieben habe „Wir haben das KZ überlebt“, habe ich drei Monate nur geschrieben. Es gab aber Phasen während des Schreibens, da konnte ich einfach nicht mehr.

Ich hatte alles auf Band aufgenommen, alles was wichtig war von diesen Zeitzeugen, mir das immer wieder angehört, konnte damit diese Grausamkeiten spüren. Ich konnte es kaum ertragen und ich wusste nicht, wie ich das aufschreiben sollte. Geholfen hat mir, dass ich mir sagte, nicht ich schreibe über meine subjektiven Empfindungen über dieses Gehörte überhaupt. Ich lasse diese Menschen einfach zu Wort kommen. Ich habe dann vieles, von dem was ich geschrieben habe, wortwörtlich von den Zeitzeugen übernommen.

Es war für mich und auch für diese Menschen noch einmal die Möglichkeit gewesen, dass was sie erlebt haben zu erzählen. Und ich habe es aufgeschrieben. Es gab Momente, wo ich einfach abends oder nachts das Licht ausmachen musste, musste einfach einen Tag warten, um so mit einem zeitlichen Abstand, noch einmal einen neuen Zugang zu finden. Und dann kam mir die Idee, warum nicht das einfach wörtlich so wiedergeben, was die Menschen gesagt haben.

Haben sie Personen in ihrem Umkreis, mit denen sie darüber gesprochen haben? 

Ihre Frau nickt gerade…

Ja. Sie war immer bei allen Gesprächen mit dabei. Sie hat gezeichnet während der Zeit und hat die Menschen porträtiert. Es war für mich einfach wichtig gewesen, dass man jemanden dabei hatte, der dazugehörte und mit dem man gemeinsam darüber reden konnte.

Ich hatte bisher einmal die Möglichkeit, persönlich einer Zeitzeugin zu begegnen. Eva Schloss hat mich durch die Ausstrahlung einer starken inneren Ruhe sehr beeindruckt. Sie vermittelten den Eindruck einer richtigen Dame, ohne unnahbar zu erscheinen.
Welchen Eindruck haben sie von den Zeitzeugen gewonnen? Sind diese in sich ruhender als Menschen gleichen Alters, die vielleicht andere Dinge erlebt haben?

Ja, es sind Menschen, mit sehr viel Energie. Wenn sie reden, wissen sie genau worüber sie reden. Sie wissen, was sie durchgemacht haben. Mit ihren Gedanken, ihren Ideen, was sie erlebt haben und wie sie das rüber gebracht haben, wurde dies deutlich.

Es war faszinierend. Das ist auch etwas, dass mir beim Schreiben selbst immer wieder auffiel und geholfen hat.

„Mensch, diese Leute haben so unsägliches erlebt, sind trotzdem noch so voll Energie und hadern überhaupt nicht mit ihrem Leben, sondern wollen nun noch einmal, das was sie erlebt haben erzählen. Aber nicht, weil sie sich damit in den Mittelpunkt stellen wollen, sondern weil sie allesamt gesagt haben – Das was wir erlebt haben, darf sich nicht noch einmal wiederholen.“.

Und das macht es eigentlich aus, diese Begegnungen mit diesen Menschen. Diese Vorstellungen, dieser Wille, dass sich das nicht noch einmal wiederholen soll. Diese Kraft, mit der sie dann ihre Geschichten erzählt haben. Das war sehr beeindruckend.

Es ist beeindruckend, dass sie sich bei dem was sie schreiben, als Autor so weit zurück nehmen können und nur die Person, um die es in diesem Moment geht, in Vordergrund zu stellen.
Wie gelingt es ihnen, diese emotional tiefen Ereignisse in schlichte prägnante Worte zu kleiden, ohne direkte persönliche Wertung?
Ebenso ein umfassendes Leben, wie das von Wilhelm Brasse, in Kurzform nieder zu schreiben, dabei allem gerecht zu werden und dennoch diese Intensivität zu erreichen?

Mir ging es einfach darum, mich komplett zurück zu nehmen. Und diese Menschen, diese Zeitzeugen noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Das war mir wichtig gewesen. Für mich war ganz unwichtig, welche Emotionen ich dabei habe. Möglicherweise kommt es an der einen oder anderen Stelle raus. In dem, was ich vielleicht weggelassen habe, oder was ich erzählt habe. Doch das eigene Erzählen wollte ich ganz weit zurückstellen oder eigene Interpretationen. Das war mir nicht wichtig gewesen, ich wollte einfach diese Menschen, diese wichtigen Menschen, zu Wort kommen lassen.

Es wird immer schwerer Menschen zu finden, die diese Zeit auch wirklich erlebt haben und aus persönlichem Erleben davon berichten können. Ist es auch denkbar, dass sie in Zukunft ein Buch über jemanden, der diese Zeit nicht überstanden hat oder den man nicht mehr greifen kann, weil einfach so viele Jahre vergangen sind, aus Erzählungen von Nachkommen zu schreiben? 

Die Zeitzeugen sterben aus. Der erste ist bereits tot, der in meinem Buch festgehalten ist. Aber ganz viele haben geheiratet, Familien gegründet und haben Kinder. Das, was diese Menschen erlebt haben, haben sie an die nächste Generation in irgendeiner Form weitergegeben.

Ich erinnere mich an die Tochter von Anna De Vries, die zu dem Gespräch, als wir dort waren, hinzu kam Und sie hat dann gesagt: „Irgendwie hatten wir alle eine Macke gehabt.“ 

Und dann hat sie gesagt: „Wir mussten alle eine Therapie machen. Dann kam so nach und nach zum Vorschein – die Mutter war im KZ Auschwitz und hat so bestimmte Dinge an uns weiter gegeben. Gut, dass wir wussten, woher es kam.“ So bestimmte Ängste hat sie auf die Kinder übertragen. 

Und einen bestimmten Ordnungssinn, diesen vor allen Dingen. Und was Anna ganz klar gesagt hat: „Ich konnte kein Essen wegschmeißen.“ Das hat sie auch an die Kinder so weitergegeben. Wenn die Kinder keinen Hunger mehr hatten, dann ist eben das Essen stehen geblieben und Anna hat gesagt: „Wenn es zum Mittag nicht gegessen wird, kommt es heute Abend noch einmal auf den Tisch.“ Und das waren Dinge, die nicht verstanden worden sind. Es kam im Erwachsenenalter dieser Kinder zum Vorschein und ist dann ausgebrochen. 
Die Tochter sagte, wir mussten eine Therapie machen. Es ist für sie auch nicht so tragisch gewesen. Sie sagte: „In jeder Familie gibt es irgendwo Probleme und die einen machen Therapien und die anderen tragen dies als Paket ihr Leben lang mit sich rum.“ Von daher ist sie sehr offen damit umgegangen. 
Es gibt in der Tat interessanten Forschungen, Untersuchungen und Publikationen zum Thema der nachfolgenden Generationen. Das ist ein ganz spannendes Thema.

Wäre dies auch ein Thema für sie?

Das könnte einmal ein Thema sein, ja. Das wäre sicher ganz interessant. Im Augenblick habe ich noch ein anderes Thema, das ich bearbeite. Aber ganz aus dem Sinn ist das Thema nie.

Ihre Bücher und auch öffentlichen Äußerungen beschäftigen sich mit einer Thematik, die nicht immer auf Wohlgefallen trifft. Hatten sie bereits mit persönlichen Anfeindungen zu kämpfen?

Bislang noch nicht. Das bleibt auch hoffentlich so.

Wie sehen sie die Thematisierung „Holocaust“ an Schulen? Kommt dieses Thema zu kurz? Nicht nur auf diesen Punkt bezogen, sondern die geschichtlichen Fragen dieser Zeit generell?

Meine Tochter besucht z. Z. die 7. Klasse des Gymnasiums und ich konnte bislang nicht feststellen, dass hier überhaupt eine Art Thematisierung z. B. über das Buch „Das Tagebuch der Anne Frank“ oder anderweitige für diese Altersklasse geeigneten Bücher erfolgte und man bemüht wäre, Interesse daran zu wecken.

Ich kann ihnen jetzt einfach mal ganz persönliche Erfahrungen mit Schulen wiedergeben. Ich bin in Rheinland Pfalz in einem Fortbildungsprogramm zum Thema „Rechtsextremismus im Alltag“. Dort mache ich bei jedem Seminar vor 120 Schülern zwei Workshops zum Thema Menschenrechte und Rechtsextremismus im Nationalsozialismus. So kurz zum Inhalt.

Wenn ich mit dem Thema „Nationalsozialismus“ im Workshop anfange und frage: „Was habt ihr in der Schule schon darüber gehört?“ Dann sagen sie alle „Ach alter Kaffee, alles schon tausendmal gehört. Alles schon besprochen. Wir wissen Bescheid.“ Ich lasse mich davon aber nicht beirren, weil ich genau weiß, was diese Schülerinnen und Schüler in der Schule darüber gehört haben. Die wissen etwas über die Nürnberger Gesetzte, die wissen etwas über die Wannseekonferenz, die wissen, wann Hitler an die Macht gekommen ist, die Judengesetzgebung etc.
Und der Nationalsozialismus hat im Übrigen in Berlin stattgefunden…
Wenn ich dann erzähle und vorlese, von Menschen, die darunter gelitten haben, also über Zeitzeugen erzähle, dann kriegen die auf einmal so ganz große Augen, machen den Mund auf und sagen: „Das haben wir doch gar nicht gewusst. Das ist wirklich passiert?“

Die können nicht nachvollziehen, was damals tatsächlich passiert ist. Sie bekommen einen ganz anderen Blick auf diese Zeit. Deswegen denke ich, Lehrer müssen schon etwas mehr machen, als Daten, Fakten und Zahlen zu vermitteln, sondern müssen erzählen, wie das Leben sich abgespielt hat. Da ist Anne Frank ganz klar eine Hilfe.

Ich habe gestern mit der Stiftung Lesen gesprochen. Dieser Film ist ja jetzt ganz neu in den Kinos angelaufen und ich habe das Unterrichtsbegleitmaterial für die Stiftung Lesen zu diesem Thema geschrieben. Die die haben gesagt, es ist 10.0000 Mal von Schulen downgeloadet worden. Es gibt da schon Bedarf, da scheinbar etwas gemacht wird. Jetzt ist der Film, nächstes Jahr läuft kein Film „Anne Frank“…

Dieser Film ist auch sehr intensiv. Ich war selbst in einer sehr frühen Nachmittagsvorstellung, was sicher ungünstig war, aber saß in diesem Saal ganz alleine. Es hätte ja auch ein Schulausflug organisiert werden können. Jugendliche im Alter von 15/16 gehen nicht freiwillig in diesen Film, da laufen nebenan interessantere Filme.

Ja. Ich weiß wie schwer es ist, mit Schulklassen ins Kino zu gehen. Ich weiß aber auch von der Stiftung Lesen, dass dieser Film von Schulklassen in Vormittagsvorstellungen ganz gut besucht ist. Nachmittags ist dies schwerer zu organisieren.

Wie empfinden sie die Resonanz von Jugendlichen auf ihre Bücher. Gibt es da Unterschiede zwischen Alten und Neuen Bundesländern oder hat sich das mittlerweile so breit gefächert, dass man da keine Unterschiede erkennen kann.

Ich habe festgestellt, dass sie bei Lesungen sehr intensiv zuhören, und wenn es dann vorbei ist, anfangen zögerlich zu fragen. Dies führt dann zu intensiven Gesprächen,
Das finde ich immer ganz erfrischend. Das man auch gerade nach so einem schweren Thema, den Weg findet, darüber zu reden.

Sie organisieren für Jugendliche und Erwachsene Bildungsreisen nach Ausschwitz. Wie erleben sie die Berührung mit der Geschichte dieser doch unterschiedlichen Personengruppen in der direkten Konfrontation?

Es gibt massive Unterschiede.

Wenn man mit Jugendgruppen reist, das funktioniert eigentlich ganz gut.

Was ganz spannend ist, mit Erwachsenen unterwegs zu sein. Wir waren jetzt zweimal mit Erwachsenen dort gewesen,die sich vorher zum Teil überhaupt nicht gekannt haben. Und interessant ist auch, dass muss man einfach noch dazu sagen. Die erste Bildungsfahrt mit Erwachsenen hat das katholische Erwachsenenbildungswerk Bad Kreuznach ausgeschrieben, mit aus unserem Kreis kommenden Leuten. Anmeldungen kamen aus ganz Deutschland und bei der zweiten hat sich das ganz ähnlich verhalten. Und nun hat sich das Ganze herumgesprochen. Aufgrund der beiden Bücher kommen die Menschen jetzt aus München, Norddeutschland, Berlin etc. Wir haben gehört, Sie fahren nach Auschwitz. Können wir da mit? Das sind ganz spannende Sachen. Die letzte Bildungsfahrt mit Erwachsenen war letztes Jahr im September
Das war umwerfend. Das war toll. Wie schnell diese Gruppe zusammengewachsen ist. Dadurch, dass wir ein Thema hatten, diese Begegnung mit der Geschichte, die allabendlichen Nachbesprechungen, ist diese Gruppe so schnell zusammengewachsen. Auch emotional waren wir dann sehr schnell, sehr eng beieinander.

Wir haben dann auch Nachtreffen gehabt, ein paar Wochen später. Da waren alle da. Aus Norddeutschland, aus Hessen kamen sie und haben viele Stunden an diese Tage miteinander verbracht und sich noch einmal erinnert

Wir hatten eine gemeinsame Lesung, eine Konzertlesung, in der Synagoge. Dazu hatten wir die Gruppe abends eingeladen und nachmittags war das Nachtreffen.

Anmerkung von , Bernadette Boos, der Lebensgefährtin von Herrn Engelmann

Wenn man in Auschwitz ist, erlebt man schon eine Art Grenzerfahrung. Wenn man sich emotional darauf einlässt. Es gibt tatsächlich diese Gruppen, die so in einer Stunde durchgeschleust werden, die Auschwitz quasi als einen Programmpunkt abhaken – eher wie von der Sehenswürdigkeitsliste. Dann passiert vermutlich weniger, auch mit einem selber. Wenn man sich 5 Tage dort aufhält und sich auch Zeit lässt, dann bewirkt es etwas mit einem und natürlich der Gruppe auch. Die Gruppe fängt einen auch auf und deshalb reisen viele Leute mit uns, weil sie sagen: „Alleine habe ich mir das nicht zugetraut.“

Wir versuchen das dadurch aufzufangen, dass wir füreinander da sind. Alles was da rauskommen kann. Auschwitz ist für mich so ein Endpunkt für das, was Menschen anderen Menschen antun. Interessanter Weise auch, was Menschen überleben können und zwar nicht nur physisch, auch innerlich ungebrochen. Sie sind nicht gebrochen, sondern starke Persönlichkeiten, die alle berichten, dass ihnen Freundschaft, Solidarität im Lager, Mitgefühl und Empathie geholfen haben zu überleben.

Das ist auch das, was unsere Teilnehmer von der Fahrt mitnehmen, dass es auf jeden einzelnen Menschen, auf seine Empathie ankommt. Und das ist bei so einer Fahrt großartig.

Kennen sich die Zeitzeugen auch untereinander?

Die beiden kennen sich Erna de Fries und Ester Bejarano.

Haben sie Kontakte zueinander?

Kontakte eher weniger. Die beiden kennen sich, da sie im gleichen Lager in Ravensbrück waren.

Karol Tendera lebt in Krakau und kannte den Tadeusz Sobolewicz.
Sobolewicz ist leider letztes Jahr im November gestorben.

Haben sie noch Kontakt zu den Zeitzeugen?

Ja, sie rufen auch teilweise an und suchen das Gespräch. Obwohl es nur dieser eine Interviewtermin war, ist das Verhältnis doch sehr familiär geworden. Es ist eine enge Vertrauensbasis entstanden und man freut sich über diesen Kontakt.

Sind sie dann eher in politische Berufe gegangen?

Gar nicht. Was Eva gemacht hat, weiß ich jetzt nicht, doch sie waren Ingenieure, Immobilienmakler. Erna de Vries z. B. wurde Hausfrau und Mutter, hatte aber auch eine Krankenschwesterausbildung. Philomena war Musikerin/Tänzerin und machte hier nach dem Krieg eine zeitlang weiter, bis sie dann eine große Familie gegründete.

Alle sind Beziehungen eingegangen.

Was allen gleich ist, als diese Zeit vorbei war, sie frei waren ist eine große Sehnsucht. Sie wollten jetzt anfangen zu leben. Sie haben das gemacht, was für viele Menschen ganz normal ist. Sie haben geheiratet und Familien gegründet.

Und was allen gemeinsam ist, dass sie viele Jahre über ihre Erfahrungen überhaupt nicht gesprochen haben. Sie konnten das nicht, weil sie Angst hatten, wenn ich das dem Ehepartner erzähle, macht der sich Gedanken, wie es mir ergangen ist.

Obwohl, Erna de Vries hat einen Mann geheiratet, der seine erste Frau und zwei Kinder in Auschwitz verloren hat. Die haben aber nie über ihre Erfahrungen in Auschwitz gesprochen Erna hat gesagt: „Wenn es einem von uns mal schlecht ging, wusste der andere genau: „Der denkt daran.“

Alle haben Albträume, bis heute noch. Josef Königsberg, der auf der einen Seite sagt: „Ich muss erzählen, doch wenn ich erzählt habe, geht es mir jedes Mal die ganze Woche schlecht.“ 

Edward Paczkowski geht es genauso. Er weint manchmal, wenn er erzählt. Er ist dann wieder so alt und ist dann wieder in dieser Situation. Alle sind auf ihre Art im höchsten Maße traumatisiert.

Die Auswahl der im Buch aufgeführten 10 Zeitzeugen ist auch sehr speziell. Es gibt sicher sehr viele Überlebende, die keine Partnerschaft eingegangen sind und ihr Leben nicht in den Griff bekommen haben. Sie sind kein Maßstab für alle Überlebenden.

Sie sind alle sehr stark und lebensfroh, sonst wären sie auch nicht so alt geworden. Diese zehn Zeitzeugen sind aber nicht repräsentativ.
Es gibt sicher auch andere Überlebende, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen haben, die depressiv sind und soziale Störungen haben.

Es gibt Menschen, die haben nie mehr über diese Zeit gesprochen.
Wir kennen einen Zeitzeugen in Bad Kreuznach, wo wir leben. Sein Sohn hatte eine Ausstellung in der Kreisverwaltung. Wir haben dort eine Konzertlesung gehalten und gedacht, er würde kommen. Dem war dann leider nicht so. Sein Sohn sagte: „Er geht zu diesen Veranstaltungen nie.“

Ihnen wird ja in 1 ½ Stunden ein ganz besonderer Preis verliehen. Haben sie dies den Zeitzeugen verraten oder halten sie es doch etwas geheim? Der Preis bezieht sich zwar vorrangig auf das Buch „Der Fotograf von Ausschwitz“. Dieses Buch steht hierfür im Vordergrund, doch ich denke, man muss beide Bücher in einer Art Einheit betrachten. Auch alle ihre anderen Arbeiten.

Ich weiß gar nicht, ob ich denen das allen mitgeteilt habe. Ich habe zwar viele Menschen darüber informiert, dass ich diesen Preis bekomme. Nein, so direkt noch nicht. Aber ich würde das auf jeden Fall noch machen. Weil für mich dann immer „Der Fotograf von Auschwitz“ im Mittelpunkt für diese Auszeichnung stand. Wilhelm Brasse lebt nicht mehr, dem kann man es nicht mehr erzählen.

Mich würde interessieren, welche Reaktionen es gegeben hat… 

Es ist gerade jetzt, in einer Zeit, in der wir erneut konträr mit den Erfahrungen aus der Geschichte gehen und Erinnerungen negativer Art wachgerufen werden, doch wieder ein positiver Ausblick.

Ich sehe das auch so, dass diese Auszeichnung, dieser Preis, noch einmal Auftrieb gibt. Einmal für mich per persönlich, der mir sagt: „Hast du richtig gemacht, musst du weiter machen.“ Aber ich hoffe auch, dass wir so ein bisschen bewirken, dass das Buch noch bekannter wird dadurch und mehr gelesen wird. Das sich mehr Gedanken darüber machen, was damals passiert ist. Auch, dass man die Gegenwart ein bisschen beleuchtet und überlegt: „Sind wir vielleicht wieder auf einem ähnlichen Weg in eine solche Vergangenheit.“

Wenn wir einmal die Themen Holocaust, Menschenrechte – Politik allgemein – ausschließen, über welche Person oder welches Thema würden sie gern einmal ein Buch schreiben?

Im Augenblick fällt mir da gar nichts ein. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass ich so viele Ideen habe, für Bücher, die mit diesem Ideenkomplex zusammenhängen, dass mein Kopf dafür gar nicht frei ist.

Im Augenblick bin ich mit dem nächsten Thema direkt in der Gegenwart angelangt Es wird ein Buch zum Thema „Rechtsextremismus“ werden. Und es gibt noch so ein paar Dinge, die ich gerne machen würde. Es gibt in München noch einen Zeitzeugen, über den ich auch noch gerne schreiben würde. Ernst Grube. Wir hatten nur die Gelegenheit gehabt ein wenig miteinander zu telefonieren. Er sollte eigentlich bei der Buchpräsentation in München dabei sein. Ernst Grube ist jemand, der sehr detaillierte Erinnerungen an seine Kindheit hat. An die Zeit des beginnenden Nationalsozialismus und das finde ich so unendlich spannend. Kleinigkeiten winzige Details der Veränderungen darzulegen, aufzuzeigen, um zu sehen, da hat es hingeführt.

Eine weitere Buchidee war so vor ca. einem halben Jahr im Gespräch. Es gibt da ein Mädchen, das in einem Hipp Hopp-Projekt mitgemacht hat. Sie kommt aus Afghanistan und war mit ihren Schwestern und Familie 2-3 Jahre auf der Flucht. Sie hat dies in einem Hipp-Hopp-Text beschrieben.

Da kam die Idee, dies nachzurecherchieren, da sie auch bereit war darüber zu sprechen. Sich mit ihrer Schwester zusammen an bestimmte Orte zu begeben und zu erzählen, wie sie jetzt lebt und wie sie in Afghanistan gelebt hat. Der Verlag hat einen anderen Autor zu diesem Thema beauftragt, aber ich werde dieses Thema auch noch einmal aufgreifen.

Aber noch einmal zurück zu der Frage.

Ich werde demnächst zum dritten Mal Großvater. Es wird ein Junge. Mein ältester Enkel, der wird jetzt schon 18.

Für das Jahrbuch der Stiftung Lesen, das Buch, das sie immer zum Welttag des Buches herausgegeben, habe ich mit ihm einen Beitrag geschrieben. Mein Enkel hat damals die Idee gehabt, gemeinsam die Geschichte zu erzählen.

Ich bin jemand, der meinen Kindern und Enkeln gerne vorliest, Bilderbücher zeigt. Das gehört einfach zum Leben mit dazu, dass man mit den Kindern lebt. Das ist etwas, was ich denen vermitteln will. Das ist mir wichtig.

Dann vielleicht einmal ein Bilderbuch?

Ein Bilderbuch ja vielleicht, wäre denkbar.

Diese Themen mache ich, damit das Leben vielleicht einigermaßen gut wird.













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2 Antworten zu Interview mit Reiner Engelmann zur Leipziger Buchmesse 2016

  1. Drachenleben sagt:

    Hallo Anja,beim Stöbern bin ich gerade über das Interview gefallen und bin nun sehr ergriffen und nachdenklich. Danke dir, dass du dem Autor so tolle Fragen gestellt hast und auch ihm, dass er sie mit einer solchen Ausführlichkeit und Hingabe beantwortet hat. Es ist sehr schön zu sehen, wie er sein ganzes Leben dieser so wichtigen Aufgabe widmet und er hat meinen allergrößten Respekt.Nachdenkliche DrachengrüßeNoctana von Drachenleben

    • Zwiebelchen sagt:

      Liebe Noctana,Reiner Engelmann ist ein wundervoller, sehr bescheidener Mensch, mit dem man sich toll unterhalten kann. Ja, er hat absoluten Respekt verdient. Reiner Engelmann lebt für das, was er schreibt und dieses Herzblut fließt in alle seine Bücher ein. Ich kann Dir seine Bücher nur wärmstens empfehlen.Liebe GrüßeAnja

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