Rezension „Das Wanderkind“ von Aude – Alfred Kröner Verlag

  • Gebundene Ausgabe : 128 Seiten
  • Herausgeber : Alfred Kröner Verlag; 1. Edition (22. März 2021)
  • Sprache : Deutsch
  • übersetzt von: Ina Böhme
  • ISBN-10 : 3520616017
  • ISBN-13 : 978-3520616012
  • Originaltitel : L’enfant migrateur
  • D: 16,00 Euro

Inhalt:

»Das Kind regt sich in ihr, als ob es auf sich aufmerksam machen wollte. Sie fühlt jetzt keine Wut und keinen Abscheu mehr, eher ein sonderbares Mitleid für das Kind, das nur noch seinen kalten, erstarrten Schatten umarmt. Es muss den entseelten, an ihn geschmiegten Körper seines Bruders spüren. Corinne legt die Hände behutsam auf den gedehnten Bauch. Es scheint, als würde sie zu dem einsamen Baby sprechen – aber in Wirklichkeit trauert sie, wie das Kind auf der anderen Seite der Scheidewand vielleicht auch.« Ein Zwillingspaar, der eine groß und kräftig, der andere klein und zerbrechlich. Einem von ihnen ist es bestimmt, den anderen am Leben zu erhalten. Ein kleiner, sehr feiner, beinahe märchenhafter Roman über die Brüchigkeit des Lebens und die schmerzhafte Schönheit menschlicher Bindungen. Ausgezeichnet mit dem Großen Leserpreis von Elle Québec, auf der Shortlist des Prix Ringuet. Trois. Revue d’écriture et d’érudition urteilte direkt nach dem Erscheinen 1998: »Diese Autorin beherrscht die Kunst, eine ganze Welt wie selbstverständlich zu erschaffen, obwohl nichts davon glaubwürdig wäre ohne ihren unvergleichlichen Stil.«

Quelle: Amazon

Die Autorin:

Claudette Charbonneau alias Aude wurde in 1947 Montréal geboren und gilt als eine der wichtigsten Figuren der frankokanadischen Literaturszene. Nach dem Studium unterrichtete sie in Québec Kreatives Schreiben und Literaturtheorie. Ihr preisgekrönter Kurzgeschichtenband Cet imperceptible mouvement (1997) erschien 1998 auf Englisch (The Indiscernible Movement). Nach einer Phase des düsteres Erzählens über Wahnsinn und Tod wandte sie sich mit L’enfant migrateur einer hoffnungsfrohen Weltsicht zu. Aude starb 2012 an Leukämie. Sie wurde posthum zur Ehrenpräsidentin des nach ihr benannten Centre Aude d’études sur la nouvelle zur Förderung der Gattung Kurzgeschichte.

Quelle: Amazon

Rezension:

Ich bin froh, dieses kleine, aber sehr feine Buch gefunden zu haben. Oder vielmehr, es hat mich gefunden.

Zwillinge und deren Symbiose sind immer wieder faszinierend. Normalerweise ergänzen sie sich oder bilden eine einzigartige Einheit. Hans und Benoit sind ein ganz besonderes Zwillingspaar. Nach einer problembehafteten Schwangerschaft hätte es nur einen der Jungen geben sollen. Doch wie durch ein Wunder überlebt auch der kleine, schwächliche Benoit.

Hans ist der dominante Zwilling. Seine Art trifft auf die Ablehnung der Familie und auch auf uns Lesern wirkt dieser Junge unsympathisch. Erst mit der Zeit lässt uns die Autorin hinter die Mauer der Kühle und Distanz blicken. Hier finden wir einen unsicheren, sich nicht als eigenständige Person fühlenden kleinen Jungen und späteren Mann. Hinter dem Verhalten von Hans steckt die große Angst vor dem Alleinsein. Mit der Zeit schleicht sich dann auch Hans in mein Herz.

Benoit dagegen fliegen alle Sympathien sofort zu. Er genügt sich selbst und es scheint seine einzige Lebensaufgabe darin zu bestehen, seinem Bruder den Rücken zu stärken. Benoit ist das Verbindungsstück zwischen allen. Oft wird er unterschätzt. Doch in ihm steckt die Stärke, die seine Eltern und Geschwister in dieser speziellen Lebensphase brauchen.

Manchmal ist das, was zart und schwach wirkt, das stärkste Bindeglied in einer Kette.

Es scheint, als Benoit sicher weiß, dass Hans seinen Platz im Leben gefunden hat und die Familie auf einem stabilen Fundament steht, es für ihn Zeit wird zu gehen.
Für mich ist er das Glühwürmchen, das den ganzen Weg durch ein Labyrinth leuchtet, bis alle sicher den richtigen Weg gefunden haben. Erst dann erlischt das helle Licht und bleibt doch als wärmende Quelle in den Herzen derer, die Benoit geliebt haben.

Dieses Buch ist psychologisch sehr sensibel aufgebaut. Ruhig und mit viel Empathie erzählt uns Aude von der ganz eigenen Dynamik der beiden auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Zwillingsbrüder und der Auswirkung auf das komplette Familienleben. Wir erleben, wie zerbrechlich Augenblicke sein können.

„Das Wanderkind“ hat mich sehr berührt. Neben aller Tragik finden sich immer wieder sehr schöne, teils mystisch anmutende Momente. Sprachlich ausgewogen und ohne ein überflüssiges Wort trifft es die Leser ganz tief im Inneren.

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3 Antworten zu Rezension „Das Wanderkind“ von Aude – Alfred Kröner Verlag

  1. Pingback: [Buchvorstellung] Das Wanderkind – AUDE - MonerlS-bunte-Welt

  2. monerl sagt:

    So schön zu lesen, dass dich das Buch auch überzeugen konnte. Ein kleines aber feines Büchlein, das wirklich viele Leser*innen verdient hat, finde ich. Deshalb habe ich auch gerne deine Rezension bei mir verlinkt.
    GlG, monerl

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