Rezension “Nebel im August” von Robert Domes – cbj Verlag

Taschenbuch: 352 Seiten
Verlag: cbj (12. September 2016)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3570403289
ISBN-13: 978-3570403280
Vom Hersteller empfohlenes Alter: Ab 12 Jahren
D: 9,99 Euro

Inhalt:

Ungekürzte Textausgabe mit zahlreichen farbigen Filmfotos
Deutschland, 1933: Ernst Lossa stammt aus einer Familie von »Jenischen«, Zigeuner, wie man damals sagte. Er gilt als schwieriges Kind, wird von Heim zu Heim geschoben, bis er schließlich – obgleich völlig gesund – in die psychiatrische Anstalt in Kaufbeuren eingewiesen wird. Hier nimmt sein Leben die letzte, schreckliche Wendung: In der Nacht zum 9. August 1944 bekommt er die Todesspritze verabreicht. Ernst Lossa wird mit dem Stempel »asozialer Psychopath« als »unwertes Leben« aus dem Weg geräumt.

Quelle: Amazon

Der Autor:

Ich erzähle Geschichten, nicht mehr – aber auch nicht weniger.

Nach vielen journalistischen Texten erschien 2008 mein erster Roman “Nebel im August”. Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet, war unter anderem nominiert für den Gustav-Heinemann-Friedenspreis. Die Lebensgeschichte von Ernst Lossa zieht nach wie vor die Menschen in ihren Bann. Viele tausend Schüler haben das Buch im Unterricht gelesen. Und ihre Eltern und Großeltern waren mindestens ebenso berührt vom Schicksal dieses Jungen. Er wird in eine Irrenanstalt der Nazis eingewiesen und bekommt mit, dass dort die Patienten ermordet werden. Er weiß, die Mörder im weißen Kittel sind gnadenlos. Dennoch fordert er sie mit seinen bescheidenen Mitteln heraus. Ein kleiner Junge. Ein großer Held. Eine wahre Geschichte. 2015 wurde der Roman unter der Regie von Kai Wessel fürs Kino verfilmt. Der Film wird 2016 ins Kino kommen.

Im Frühjahr 2014 erschien mein erste Krimi “Voralpenphönix”. Darin wühlt die Lokaljournalistin Olivia Austin tief in der Vergangenheit. Sie versucht herauszufinden, was hinter dem Feuertod eines alten Mannes steckt. Allerdings muss sie feststellen: Die Geister, die sie weckt, spuken auch in ihrer eigenen Familie herum. Seit erscheinen des Romans freuen sich die Leserinnen und Leser über einen Allgäu-Krimi der etwas anderen Art. Augenzwinkernd und frech, spannend und temporeich, überraschend bis zur letzten Seite. Aber lesen Sie selbst.

Kaum war dieser Krimi auf dem Markt, riefen die Leser nach einer Fortsetzung. Diese erschien unter dem Titel “Almwiesengift” im Frühjahr 2015. Diesmal hat es Olivia mit einem unheimlichen Giftmörder zu tun. Ihre beste Freundin Franziska stirbt bei einem Hexenfest an einem ominösen Pflanzengift. Während Olivia im Esoterik-Milieu recherchiert, ist der Mörder bereits hinter ihr her.

Robert Domes lebt mit der Schauspielerin Simone Schatz, zwei Kindern und zwei Katzen in Irsee im Allgäu.
Mehr über ihn unter: www.robertdomes.com

Quelle: Amazon

Rezension:

Worauf seid ihr besonders stolz, wenn ihr an eure Kinder und deren Entwicklung denkt?
Macht euch darüber bitte kurz Gedanken, bevor ihr weiter lest.
Ist es der Entdeckergeist, die Wissbegierde, der Übermut? Sind es die oftmals kleinen Schritte, die manchmal sehr viel bedeuten können? Oder ist es die schier unendliche Energie, mit der sie dem Leben entgegen stürmen? Später, wenn sie größer werden, der kritische Blick auf ihre Umwelt, Hilfsbereitschaft oder die unvoreingenommene Liebe, die sie uns entgegen bringen können?

Und nun überlegt einmal, wie es wäre, wenn all diese Wesenszüge als negativ, asozial, nicht passend, sogar als psychopatisch ausgelegt würden? Und dies alles nur, weil das Elternhaus nicht in ein Kastenschema passt.

Man mag es kaum glauben, möchte sich den Tatsachen verweigern und doch gab es eine Zeit, in der dies möglich war. Eine Zeit, in der Menschen willkürlich Wahrheiten dermaßen verdrehen konnten, dass ein völlig normales Kind, ohne jegliche psychischen oder physischen Gebrechen als unwert zu leben eingestuft wurde. Kinder aufgrund geistiger oder rein körperlicher Defizite ihr Leben nicht leben durften. Eine Zeit, in der sich Menschen über das Leben anderer erhoben und der Hippokratische Eid oftmals nur auf dem Papier bestand….

Wer mag sich erheben und entscheiden wollen, welches Leben lebenswert oder unwert ist? Nach welchen Kriterien mag man überhaupt eine derartige Entscheidung treffen wollen? Die Abweichungen von der “Normalität” mussten nicht einmal groß sein. Epilepsie, Taubheit oder einfach nur die “falsche” Lebensweise konnten über Tod oder Leben entscheiden. Depressionen gelten heute als Volkskrankheit. Zu Zeiten des Hitlerregimes hätte eine derartige Diagnose und ein daraufhin folgender Klinikaufenthalt leicht den Tod des Betroffenen bedeuten können.

Ernst Lossa wurde in diese Jahre des Hasses, in denen menschenverachtende Ideologien im Vormarsch waren, geboren. Ein Junge, dessen Leben bereits mit vier Jahren einen Weg beschritt, auf dem eine Umkehr kaum möglich war.
Ernst Lossa ist nur eines der vielen Opfer des Naziterrors. Sein Schicksal steht stellvertretend für all die Kinder, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen, die unmenschlich dahinsiechen mussten, weggesperrt und systematisch ausgehungert oder mit Morphiumspritzen umgebracht wurden.

Erschreckende Realität ist, dass genau diese Tendenzen, dieses Gedankengut wieder aufleben und sich in den Köpfen der Menschen einnisten.

Ernst stiehlt wie eine Elster. Ein Verhalten, dass er erst im Heim entwickelte und ihm zum Verhängnis wurde. Er stiehlt nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Hunger und um seine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit zu stillen.

“Aber warum ist er böse, wenn er Hunger hat und Äpfel stiehlt? Warum ist es böse, wenn er einem der Idioten den Tabak wegnimmt? Der merkt es doch sowieso nicht. Oder wenn er ein Stück Butter mopst. Aber immer heißt es gleich, der Lossa ist böse, der ist asozial, der ist nicht ganz normal…”  

Nur in seinen ersten vier Lebensjahren durfte er erfahren, was Familie, Geborgenheit und Liebe bedeuten. Mit der Krankheit und dem Tod der Mutter zerbrach seine kleine Welt und auch der Vater verlor den letzten Halt im Leben. Doch bereits zuvor konnte dieser kleine Junge die Ablehnung und den Spott der Menschen spüren und musste lernen, was es heißt, in eine Schublade gesteckt zu werden. “Zigeuner!” wurden sie geschimpft. Und auch heute noch, wird dieses Wort verächtlich in den Mund genommen, um abwertend über Menschen zu urteilen.

Ernst wurde rein nach dieser Schublade beurteilt. Seine Taten nie hinterfragt, sondern als Charakterzug eines Zigeuners verurteilt. Dabei war sein Verhalten das eines ganz normalen kleinen Kindes, das die Welt und das Leben entdecken möchte. Eine Chance hatte dieser Junge nie.

Mit vier Jahren erscheint Ernst recht altklug, später mit vierzehn in seinen Gedankengängen eher kindlich naiv, dann wieder erschreckend weitsichtig. Aufgrund seines Heimlebens wurden der Horizont seiner Gedanken, seine Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt. Der Junge wurde nicht nur in seiner Lebensqualität beschnitten, auch in seiner geistigen Weiterentwicklung.
Er war ein Störfaktor, den es zu eliminieren galt. Ernst hatte zuletzt zu viel gesehen und begriffen. Er war ein unerwünschter Zeuge

Ernst Lossa im April 1942 bei der Einlieferung
in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Quelle: Wikipedia

Obwohl ich den Ausgang der Geschichte, seines Lebens kannte, bliebt doch immer die Hoffnung auf eine Wende, die Hoffnung auf einen positiven Ausgang an meiner Seite. Der Wunsch nach einem Ende, das es nicht geben konnte. Die Geschichte zeigt uns hier in aller Deutlichkeit, wohin nationalsozialistisches Gedankengut führen kann und die Tendenzen sind heute leider wieder nur zu deutlich spürbar.
Wir mögen nicht an die Grausamkeiten der menschlichen Abgründe denken und doch gab und gibt es sie um uns herum. Sadistisches Gedankengut versteckt hinter der Fassade einer politischen Gruppierung.

Von der Gesellschaft in eine Schublade gesteckt, aller Möglichkeiten einer individuellen Entwicklung beraubt, wurde Ernst von einem Heim ins andere geschoben. Niemand wollte ihn wirklich. Nur wenige Freundschaften durfte er in seinem kurzen Leben erfahren. Ernst war einfach nur ein kleiner Rebell auf der Suche nach Liebe, Geborgenheit und seinem Platz im Leben.

Beim Lesen bildet sich mehr als einmal ein Kloß im Hals. Hoffnung, Wut und Trauer bilden eine Kaskade an Gefühlen, die ich beim Lesen durchlaufen habe.

“Nebel im August” ist ein Buch, das man vor allem mit dem Herzen liest, auch wenn es dabei zu zerbrechen droht.

Einen sehr fundierten Bericht zu Ernst Lossas Geschichte und einen kritischen Blick auf die Verfilmung des Buches findet ihr bei Arndt auf Astrolibrium.

Stolperstein Kloster Irsee verlegt am 16. Mai 2009
Quelle: Wikipedia

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2 Antworten zu Rezension “Nebel im August” von Robert Domes – cbj Verlag

  1. Drachenleben sagt:

    Hallo Anja,danke für deine tolle Buchvorstellung. Ich habe den Titel schon öfter angeschaut und noch überlegen müssen, ob ich ihn gerne lesen würde, aber das hast du auf jeden Fall jetzt manifestiert. Ich lese sehr gerne Geschichten aus dieser Zeit, denn ich möchte es verstehen und ich vor allem möchte ich nicht, dass die Gräueltaten vergessen werden, während auf den Straßen schon wieder unschöne Entwicklungen neues Unheil heraufbeschwören.Drachige GrüßeNoctana

  2. Zwiebelchen sagt:

    Herzlich Willkommen Noctana. Ich freue mich, dass Du hierher gefunden hast. Danke für Deinen lieben Kommentar und ich hoffe, Du wirst auch weiterhin von meinen Buchvorschlägen verführt werden :)Liebe GrüßeAnja

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